1. Mai 2001

Die Inszenierung des revolutionären 1.Mai

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05.05.2001
Von: Karl Licht Uhrzeit: 16:14

Die Inszenierung des revolutionären 1.Mai

Die Inszenierung des revolutionären 1.Mai-Rebellionsrituals unter dem Vorzeichen der Werthebachschen Eskalationsstrategie. Erlebnisse und Gedanken eines Berliner Teilnehmers.

Die Inszenierung des revolutionären 1.Mai-Rebellionsrituals unter dem Vorzeichen der Werthebachschen Eskalationsstrategie

Eine Woche vor dem 1.Mai hat Werthebach seinen Fehdehandschuh dem ideellen Gesamtautonomen an die Backe gepatscht! Um es mit den Worten der Diesel-Werbung zu sagen: "BAD IDEA"!!! In den darauffolgenden Tagen manifestierte sich die Eskalationsstrategie des Berliner Innensenators Schritt für Schritt. Die üblichen juristischen Vorgeplänkel endeten mit einem typisch rechtsstaatlichen Ergebnis: NPD durfte, AAB (Antifaschistische Aktion Berlin) u.a. nicht. Die Schergen des Staates waren mit der Rekordzahl von 9000 am Start. In dieser elektrisierten Atmosphäre stellte sich den erfahrenen FestspielbesucherInnen deutlich mehr Nackenhärchen als üblich auf.
Prolog. Werthebach, Saberschinsky und Piestert haben in den Kommerzmedien dermaßen rumgepoltert, daß viele schon von einer Art Kriegsrecht in Kreuzberg reden. Abends sind auf den Straßen von Prenzlauer Berg, Friedrichshain und Kreuzberg schon Tage vorher deutlich mehr Wannen und Six-Packs zu sehen als sonst. Aufreizend langsam und meistens mit zwei Wagen hintereinander patroullieren sie durch die Kieze. Samstagnacht um Drei stehe ich mit ca. 20 Leuten an einer Haltestelle und warte auf die Nacht-Tram. Obwohl die meisten relativ zeckig aussehen, werden wir von den Bullen nicht als illegale Versammlung aufgelöst. Wenn Blicke Schläge wären, hätte es anders ausgesehen.
Der 1.Akt. Die Walpurgisnacht. Ich schlendere gegen Zehne durch die Straßen des Friedrichshainer Nord-und Südkiezes. Vor allem in den Seitenstraßen rund um den Boxhagener Platz herrscht ein reges und buntes Treiben. Ob auf der "schicken" Simon-Dach-Straße oder den linken Szenetreffs, die Tische und Gehwege sind voll - voll auch mit Bullen, die an vielen Ecken zu 50 oder 100 rumstehen. Einige Gruppen bereits in Ninja-Turtles-Outfit plus Schlagstock nebst Schild. Auf dem Boxi selbst und unmittelbar drumherum sind so um die 700 Menschen. Großes Walpurgisnachtfeuer auf dem Platz. Es werden Feuerschluck- und Jonglierperformances dargeboten. Von den Privatpartys auf den Balkonen werden Knaller geschmissen. Laue Nacht, alles eine riesige mediterrane Straßenfete, es wird massenweise gesoffen und gekifft. Ich halt mich an meiner Rotweinpulle und der Gitanes, später an Judith fest.
An der Grünberger Str. kann mensch schon an einigen Stellen den Strand unter dem Plaster sehen. Kleine Grüppchen in Schwarzer-Block-Trachtenanzügen streifen herum und schieben Haß. Die Bullen provozieren, indem sie zweimal mit Hundertschaften in voller Montur vorbeilaufen bzw. fahren. Kamerateams sind auch da. Irgendwann um Zwölfe herum geht vor einer Pizzeria irgendwas in Flammen auf. Die nahegelegene Bushaltestelle wird entglast. Altglascontainer werden auf die Straße geschoben. Jetzt können die Bullen auch endlich loslegen. Viele Bayern und Schwaben darunter. Den Auswärtigen (auf beiden Seiten) muß schließlich was geboten werden!
Die Ninja-Turtles sind schnell mit einem Großaufgebot vorbeigekommen: Wasserwerfer, Räumpanzer, Infanterie; Steine und Pyros reichern die Luft an, der Platz wird gestürmt und gekesselt. In den Seitenstraßen fängt das Katz-und-Maus-Spiel an - das Übliche halt. Judith und ich verpissen uns in eine der wenigen bullenfreien Seitenstraßen (vorher ausgekundschaftet, be prepared!) und philosophieren über die Inszenierung und den kommenden Tag. Gegen Halbdrei hat sich die Lage beruhigt, die Ninja-Turtles haben den Südkiez quasi komplett besetzt, wir sind betrunken und lästern bei Freunden auf einem Balkon in der Grünberger über die Bullen ab, welche unter uns hin und her geschickt werden.
Der 2.Akt. Halbdrei am Lausitzer Platz. 28 Grad und vorerst brennt nur die Sonne. Kurz vor knapp haben Angela Marquardt (PDS), die Berliner Jusos und die Grüne Jugend Berlin eine Demo gegen das Demonstrationsverbot der revolutionären 1.Mai Demo um 18 Uhr unter dem Motto "Freiheit stirbt mit Sicherheit" angemeldet. Die JungdemokratInnen/Junge Linke, der Republikanische AnwältInnenverein und andere Gruppen aus der linksliberalen Ecke rufen auf. Am Ende sind es ca. 7000 Leute, die durch SO 36 laufen. Die Transpis, die Redebeiträge, das politische Spektrum, die Folklore, die Lautis - nichts unterscheidet diese Manifestation von den vorjährigen revolutionären 1.Mai Demos um 18 Uhr. Eigentlich war das allen von vornherein klar. Es ist ein wichtiger und richtiger Schritt, daß linksliberale Gruppen diesen emanzipatorischen Akt der Solidarität für die kriminalisierten Linksradikalen und des Kampfes gegen eine Aushöhlung des Menschenrechtes auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit leisten.
Es gibt kaum Vorkontrollen. Die Bullen laufen zwar rechts und links des Demonstrationszuges mit, allerdings in verhältnismäßig geringer Stärke und ohne zu provozieren. Auch die Seitenstraßen an der Route sind weitgehend ohne die Weißhelmchen. Anscheinend ist es Saberschinsky (Berliner Polizeipräsident, rechte Hand von Werthebach) denn doch zu riskant, auf Jusos und Grüne einprügeln zu lassen, auch wenn es sich im Grunde um eine Ersatzveranstaltung für die AAB und andere Gruppen aus dem antifaschistischen und autonomen Spektrum handelt. Bei so einer Taktik hätte es in den vergangenen Jahren nie Krawalle aus der Demo heraus gegeben.
Während der Abschlußkundgebung, die auch noch pünktlich um 16 Uhr zu Ende geht, tauchen Gerüchte über Krawalle bei der revolutionären 1.Mai Demo um 13 Uhr (da gehen immer die orthodoxen Mao-/Lenin-/Stalin-/...Leerraum für sonstige Ikonen...istInnensekten. Toll! Endlich mal was Neues. Ich sehe schon die B.Z.-Schlagzeile: "Marodierende Kommunistenhorden ziehen plündernd und brandschatzend durch Kreuzberg!" Na ja, bleibt ein Gerücht. Ziemlich fertig von der Hitze verziehen meine Leute und ich uns erstmal auf den Mariannenplatz.
Tausende von Menschen vielerlei Geschlechts, Alters, Hautfarbe und politischer Richtung tummeln sich auf dem Rasen, an den verschiedenen Freß-, Sauf- und Infoständen und vor den beiden Bühnen, auf denen (u.a.) Ska-, Folk- und Punkbands spielen. Die Düfte türkischer, libanesischer und chinesischer Küche vermischen sich mit kräftigen Kiffschwaden und dem vielkehligen Gequatsche der zahlreichen Grüppchen zu einer einzigartigen, wohltuenden Melange: Straßenfest am Mariannenplatz, im Herzen von SO 36! Ich schlendere an den Infoständen herum, quatsche ein bißchen mit Bekannten und FreundInnen. Die meiste Zeit aber chille ich auf dem Rasen und traumdöse so vor mich hin.
Plötzlich macht sich eine eigenartige Unruhe breit und ungewöhnlich viele Leute gehen Richtung Waldemarstraße (südl. Ende vom Platz). Es ist jetzt kurz vor 18 Uhr. Wir gehen mit. Weit hinten in der Mariannenstr., kurz vorm Heinrichplatz, sehen wir schemenhaft, wie Wasserwerfer und Einsatzhundertschaften eine große Menschenmenge in unsere Richtung treibt. Diese wehrt sich mit zahllosen Steinwürfen. Die Masse kommt näher. An der Waldemarstr. angekommen, zerstreut es sich; wildes Hin- und Hergerenne in die Seitenstraßen aber auch auf den Platz. Die Bullen kommen, von der Seite fährt unvermittelt ein Wasserwerfer herbei und nimmt die Menschen auf dem Platz ins Visier. Die Antwort ist ein zorniger Steinhagel. Die Bullen beginnen auf den Platz zu traben. Wir reden mit beruhigenden Worten auf die nach hinten fliehenden Menschen ein und versuchen kurzzeitig Ketten zu organisieren, um das Straßenfest vor dem Angriff der Staatsschergen zu schützen. Sinnlos! Alles flieht kopflos nach hinten Richtung Kirche. Die Bullen stürmen und knüppeln ohne Rücksicht auf Verluste und blindlings drauflos. Der Wasserwerfer schießt auf die Kinderhüpfburg. Vor allem die Mütter und Väter mit ihren kleinen Kindern schieben krasse Panik. Gewalt erzeugt Gegengewalt, nie war dieser Satz richtiger, als auf diesem Platz zu dieser Stunde! Denn nun gehen u.a. Becher, Flaschen, Teebeutel, Fladenbrote, Milchtüten in immer wieder aufbrandenden Kaskaden auf die Bullen herunter. Irgendwie gelingt es den knapp 1000 verbliebenen FestbesucherInnen tatsächlich, die Bullen vom Mariannenplatz zu vertreiben. Diese verpissen sich u.a. in die Muskauer Str. Mit Wut im Bauch und euphorischen Jubelschreien auf den Lippen stürmen viele Menschen den Schergen hinterher, kurz darauf wieder (schneller) zurück. An der Muskauer Ecke Mariannenplatz entwickelt sich fortan ein ca. einstündiges Scharmützel. Der Duft der Bratwürste vermischt sich mit dem schwarzen Rauch der abgefackelten Autos, den wellenartig vorgetragenen Steinwurfattacken, dem ätzenden CS-Gasnebel und den brutalen Schüssen der Wasserwerferkanonen zu einer einzigartigen, überaus aufregenden Melange: 1.Mai-Krawalle in SO 36!
Glücklicherweise stürmen die SteinewerferInnen immer nach vorne, um ihre gefährliche Fracht abzuladen. Sehr vereinzelt werfen auch welche von hinten, die dann aber von den Umstehenden sofort zurechtgewiesen werden. Pflastersteine werden wie blöde ausgebuddelt und eimerweise nach vorne getragen. Immer wieder umnebelt CS-Gas die Szenerie, die Augen tränen und die Menschen fluchen. Hinten stehen knapp 1000 Leute, die die riots mit einer Mischung aus Erschrecken, Faszination und versteckter Sympathie verfolgen. Irgendwann hat die Muskauer eine neue Schicht aus Pflastersteinen, sind mittlerweile drei Autos und einige Müllcontainer abgefackelt worden und die Bullen haben genug Einsatzkräfte gesammelt, um den Platz endgültig zu räumen. Wir gehen derweil zur Waldemarstr., wo wir Glück haben, nicht von ca. 20 ultrabrutalen und echt durchgeknallten Zivibullen geknüppelt zu werden. Diese stürmen unvermittelt die Straße in Rambo-Manier hoch, schubsen selbst Kinder rücksichtslos an die Hauswände und greifen sich willkürlich Leute aus der Menge. Dankenswerterweise summt uns ein Anwohner dessen Haustür auf.
In den nächsten Stunden flammen an verschiedenen Stellen von Kreuzberg noch kleinere Krawalle auf, allerdings kriegen wir von diesen nicht mehr allzuviel mit. Die Bullen bilden überall Sperrketten und riegeln große Teile von SO 36 komplett ab.
3.Akt. Dreivierteleins auf den Stufen des LKA am Tempelhofer Damm. Zwei unserer Leute sind seit Stunden am Mariannenplatz eingekesselt. Das gleiche Schicksal erleiden mehr als 300 weitere Menschen. Die meisten von ihnen sind durch Zufall da reingeraten. Wollten sich amüsieren und relaxen und..."zack"! Manche stehen mehr als 7(!) Stunden im Kessel und werden wie schwerstkriminelle StraftäterInnen behandelt.
Zu unserer "Knastparty" gesellen sich zeitweilig knapp 20 andere Leute. Die JungdemokratInnen/Junge Linke stellen das größte Komitee zur Begrüßung und Betreuung ihrer und anderer Freigelassenen und genießen deswegen bei uns echte Bewunderung. Mit viel Bier, Tee, Knabbereien, Diskussionen und der Lektüre verschiedener Printerzeugnisse der Kommerzmedien verbringen wir die nächsten Stunden. Wir werden immer müder und lethargischer, gegen Halbsechs hat das Warten endlich ein Ende. Freudig, erleichtert und erschöpft umarmen wir unsere freigelassenen Freunde.
Epilog. Werthebach und Konsorten betreiben seit seinem Amtsantritt die Demontage des Grundrechtes auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit. Dazu ist jeder Anlaß willkommen, so z.B. im staatsantifaschistischen Sommer 2000, mediengerecht verpackt als Anti-Nazi-Politik. Auf nichts anderes liefen seine strategischen Spielchen im Vorfeld des diesjährigen 1.Mai hinaus. JedeR weiß, daß es am 1.Mai in Berlin immer mehr oder weniger knallt. Dafür gibt es verschiedenste ethnologische, sozialpsychologische und (durchaus auch noch) politische Gründe. Mit der Werthebachschen Eskalationsstrategie wurde die Situation ohne Ende angeheizt. Im Grunde geht es Werthebach gar nicht um die Beendigung der Krawalle. Die finden sowieso statt. Ob während, bzw. kurz nach der Demo mittels tatkräftiger Eskalationshilfe der Bullen - wie es bürgerrechtsbewegte DemobeobachterInnen immer wieder feststellen müssen, u.a. der renommierte Politikwissenschaftsprofessor Wolf-Dieter Narr (pikanterweise dieses Jahr selbst Opfer der Polizeigewalt) - oder nach einer weitgehend friedlich verlaufenen Demo in zeitlich wie räumlich großer Entfernung wie z.B. 1997, als die Demo einige Stunden vor den Kreuzberger Krawallen am Rosenthaler Platz (Mitte) ihren Abschluß fand. Wes Geistes Kind der Innensenator ist, zeigen solche Aussagen wie die, daß er nicht verstünde, wofür die "Linksextremen" immer noch demonstrierten, wo doch der Warschauer Pakt nicht mehr existiere. Deswegen ginge es nicht mehr, gegen die Regierung zu sein. Gings nach ihm, so wird in der Bundeshauptstadt Berlin künftig wohl absolutistische preußische Ruhe, Ordnung und Sauberkeit vorherrschen. Wer dann noch demonstrieren darf, bestimmen die Herrschenden und nicht mehr das Menschenrecht.
Die Berliner CDU fordert - getreu der eingeschlagenen Linie - bereits für die nächsten Jahre ein Verbot sämtlicher Demos und Straßenfeste am 1.Mai in Kreuzberg. Toll! Geil! Super! Mein Vorschlag wäre: totale Ausgangssperre in sämtlichen Innenstadtbezirken Berlins vom 30/04 um 20.00 Uhr bis 02/05 um 6.00 morgens. Zuwiderhandlungen werden mindestens als schwerer Landfriedensbruch bestraft. Ca. 30.000 Bullen patroullieren durch die Straßen, um preußische Ruhe, Ordnung und Sauberkeit zu gewährleisten. Eine eisige Stille legt sich über Berlin - und der Haß wächst und wird sich andernorts Bahn brechen...

Karl Licht


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