1. Mai 2001

pressespiegel

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taz 4.5.:

18:20: Polizei stürmt über das Fest auf dem Mariannenplatz und wird munter begafft und fotografiert

Polizei: Hier gehts zur Front
Scharfe Kritik an der Polizeitaktik am 1. Mai: Beamte schickten gewaltbereite Demonstranten zum
Mariannenplatz, wo dann das Fest eskalierte. Polizei will nur Friedlichen den Weg gewiesen haben von PLUTONIA PLARRE
Nach Steinen hagelt es nun Kritik: Die Polizeitaktik am 1. Mai in Kreuzberg steht unter Beschuss. Von zentraler Bedeutung ist dabei eine Frage: Warum wurden gewaltbereite Demonstranten in der Oranienstraße per Lautsprecherdurchsage aufgefordert, sich in Richtung Mariannenplatz zu entfernen? Auf diesem fand zum selben Zeitpunkt ein friedliches Straßenfest mit mehreren tausend Besuchern statt. Kurz darauf kam es zur Eskalation. Die Polizei bestätigte gestern Abend ihre Durchsage. Diese habe aber nur "völlig friedlichen" Teilnehmern der PDS-Demonstration gegolten. Zudem habe man nur dazu aufgefordert, "sich in Richtung Mariannenplatz und nicht zum Mariannenplatz zu entfernen".

Der grüne Fraktionschef Wolfgang Wieland hält dagegen die Durchsage an die Demonstraten für eine bewusste Strategie: "Die Menschen wurden zum Mariannenplatz getrieben, weil man sie dort einkesseln wollte." Die Polizei hatte angegeben, die Randalierer seien von sich aus zum Mariannenplatz gezogen, um aus der "Deckungsmasse" der Feiernden heraus Steine und Flaschen auf die Beamten zu werfen. Damit, dass ihr das Heft aus der Hand geraten würde, hatte die Polizei offenbar nicht gerechnet. Erst zwei Stunden später, gegen 20 Uhr, waren die Beamten wieder Herr der Lage. Sie bildeten Kessel um mehrere hundert Randalierer und Schaulustige.

Der 1.-Mai-Einsatz wird am Montag im Innenausschuss ein parlamentarisches Nachspiel haben. Der Chef der Schutzpolizei, Gernot Piestert, hatte einen Bericht der "SFB-Abendschau" über die kritisierten Lautsprecheraufforderungen zunächst so kommentiert: Sollte dies tatsächlich so geschehen sein, sei dies aus polizeitaktischer Sicht "töricht". Und Innensenator Eckart Werthebach (CDU) sagte: "Das kann ich mir nicht erklären."

Der Filmbericht der "Abendschau" war am späten Nachmittag des 1. Mai am Heinrichplatz aufgenommen worden. Die Aufforderung, sich zum Mariannenplatz zu bewegen, ist in Ton und Bild dokumentiert. Die gleiche Durchsage ist nach Informationen der taz zuvor auch an der Kreuzung Adalbert- und Oranienstraße und auf dem Lausitzer Platz gemacht worden.

18:44: Der weiße Golf, der kurz darauf über 20 Minuten brennen wird, steht ohne Nummernschild in der Muskauer Str. Höhe Telefonzelle

Der innenpolitische Sprecher der CDU-Fraktion, Roland Gewalt, hat diese Taktik kritisiert: "Wenn es zu einem Hinweis gekommen ist, zum Mariannenplatz zu gehen, dann war das sicher ein Fehler des lokalen Polizeiführers, der nicht hätte passieren dürfen." Die PDS-Abgeordnete Marion Seelig vermutet, dass hinter dem Vorgehen die Strategie steckt, das Straßenfest auf dem Mariannenplatz "zu kriminalisieren". Die SPD-Abgeordnete Heidemarie Fischer dagegen glaubt, dass "Pannen" auf den verschiedensten Ebenen zu dem Desaster führten. Möglicherweise hätten die vor Ort eingesetzten Fremdkräfte aus Niedersachsen, Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt den Überblick verloren und die Leute in die falsche Richtung geschickt. Aufklärung wünscht Fischer im Ausschuss auch darüber, warum ein Polizeiführer vor Ort mitten im Einsatz abgelöst wurde.

taz Berlin lokal Nr. 6437 vom 4.5.2001, Seite 19, 102 TAZ-Bericht, PLUTONIA PLARRE
http://www.taz.de/pt/2001/05/04/a0143.nf/text.ges,1

Die Berliner Zeitung dazu:
Berliner Zeitung
Freitag, 04. Mai 2001

Polizei-Pannen begünstigten offenbar Krawalle
Beamter schickte Demonstranten in Richtung Mariannenplatz, wo Tausende friedlich feierten
Der Polizei sind bei dem Einsatz am 1. Mai in Kreuzberg offenbar schwere Fehler unterlaufen. Von einem Einsatzführer wurden Demonstranten an der Kreuzung Oranienstraße/Adalbertstraße aufgefordert, das Gebiet "in Richtung Mariannenplatz" zu verlassen. Zur selben Zeit fand dort aber ein Familienfest statt. Später begannen schwere Krawalle auf dem Platz, bei denen insgesamt 350 Randalierer festgenommen wurden. Ein offenbar überforderter Polizeiführer musste abgelöst werden. Daraufhin kam es zu gravierenden Kommunikationsproblemen zwischen der Führung und den einzelnen Polizeitrupps, so dass der Einsatz nur mangelhaft koordiniert werden konnte. Die Polizei wies die Vorwürfe zurück.
Ziel der Polizeiführung war es am Nachmittag des 1. Mai, die erwarteten Ausschreitungen unbedingt vom Mariannenplatz fern zu halten. [...] Während sich die Polizei eingerichtet hatte, mit massiven Kräften verschiedene Areale abzusperren, waren auf dem Mariannenplatz nur einige Beamte in Zivil postiert, um die Stimmung auf dem Fest nicht anzuheizen. Doch gegen 16.15 Uhr unterlief einem leitenden Polizisten ein schwerer Fehler. Aus einem Mannschaftswagen heraus forderte der Einsatzführer Demonstranten auf, die Adalbertstraße "in Richtung Mariannenplatz" zu verlassen. Entsprechende Filmaufzeichnungen der SFB-Abendschau belegen das. Die zentrale Polizei-Einsatzleitung am Platz der Luftbrücke wusste offenbar nichts von dieser Lautsprecherdurchsage. Die Polizei bestätigte am Donnerstag die Durchsage, betonte aber, dass es sich bei den angesprochenen Personen um friedliche Demonstranten einer mittlerweile beendeten PDS-Demonstration gehandelt habe. Zeugen sagten dagegen aus, dass darunter auch Störer gewesen waren.

18:49: Der weiße Golf, der kurz darauf vor dem Mariannenplatz brennen wird, ist umgestürzt und angezündet in der Muskauer Str. Höhe Telefonzelle

Aber auch an einer weiteren Stelle gelang es der Polizei nicht, die Randalierer auf dem Weg zum Mariannenplatz zu stoppen. Die Einkesselung von 200 Autonomen am Heinrichplatz misslang, weil die Polizei nicht schnell genug ausreichend Kräfte zusammenziehen konnte. Stattdessen konnten Krawallmacher auf den Mariannenplatz vordringen und aus der Menge heraus Steine werfen. Die SPD-Politikerin Hertel widersprach Vorwürfen, dass die Polizei absichtlich gewalttätige Demonstranten zum Fest von PDS und Grünen getrieben habe, wie das einige Festbesucher vermutet hatten. Solche Vorwürfe seien "absurd". Zehn Minuten vor dem Ende des Straßenfestes entschloss sich die Polizei, nun doch den Mariannenplatz zu umstellen. Da dies in den ursprünglichen Planungen nicht vorgesehen war, musste die Einsatzleitung Polizisten von anderen Plätzen abziehen. Das dauerte - "nach meiner Ansicht zu lange", hatte Landesschutzpolizeidirektor Gernot Piestert am Mittwoch gesagt. Die Verzögerung hatte einen Grund: Die Polizeiführung wollte mögliche Angriffsziele der Autonomen wie den Potsdamer Platz oder das Regierungsviertel nicht unbewacht lassen. Deshalb hatte sie dort viele Beamte postiert, die in Kreuzberg fehlten.[...]
http://www.BerlinOnline.de/aktuelles/berliner_zeitung/berlin/.html/35673.html


Tagesspiegel: Nachrichten : Berlin 4.05.2001
 
1. Mai - Krawalle beschäftigen den Bundestag
Wiefelspütz kündigt Beratung im Innenausschuss an / Berliner Polizei bestreitet inzwischen einen Einsatzfehler
Barbara Junge
 

[...] Die Eskalation in Kreuzberg, darin waren sich gestern Werthebach und Wiefelspütz einig, sei kein Ereignis, das man mit einer Verschärfung des Versammlungsrechtes künftig verhindern könnte. Dennoch wird der 1. Mai eine neue Note in die Debatte um eine Einschränkung des Versammlungsrechtes bringen. Hans-Peter Uhl (CSU), Mitglied des Innenausschusses des Bundestages, sagte gestern dem Tagesspiegel, die Debatte müsse erweitert werden um die Frage: "Ist das Versammlungsrecht ausreichend, um mit solchen linken Chaoten wie in Berlin fertig zu werden?". Wenn am 16. Mai der Innenausschuss des Bundestages eine Anhörung zum Thema durchführt, wird Innensenator Werthebach darüberhinaus die Demonstration der NPD am 1. Mai durch Hohenschönhausen als Bestätigung dafür anführen, dass solche Aufzüge nicht mit den Mitteln des bisherigen Versammlungsrechtes zu verbieten seien. Ein Verbot der Demonstration durch die Versammlungsbehörde hatte vor den Verwaltungsgerichten keinen Bestand gehabt, und die Rechtsextremisten durften - an den Rand der Stadt abgeschoben und auf eine kurze Route beschränkt - demonstrieren. Werthebachs Sprecher Stefan Paris sagte deshalb gestern: "Das Versammlungsrecht muss dringend verbessert werden. Auch im Interesse anderer Bundesländer, die ebenfalls mit ihren Verbotsverfügungen unterlegen waren."
[...]

18:54: Der weiße Golf, von einem Schützenpanzerwagen vor den Mariannenplatz geschoben - Wasserwerfer da, doch gelöscht wird nicht

Unterdessen hat die Polizei die Vorwürfe zurückgewiesen, mit eigenen Anweisungen an Demonstrationsteilnehmer die Situation in Kreuzberg eskaliert zu haben. Einem Bericht der SFB-Abendschau zufolge hatte ein Beamter eine Gruppe von Demonstranten, die sich am Heinrichplatz versammelten, per Megaphon aufgefordert, sich zum Mariannenplatz zu bewegen, wo ein Straßenfest stattfand. Die Polizei gab zunächst an, die Demonstranten seien von sich aus zum Mariannenplatz gestürmt, von dort aus hätten Randalierer im Schutz der Menge Steine und Flaschen geworfen. Die Innenverwaltung wollte bis zur Klärung der Vorwürfe keine Stellungnahme abgeben. Die Polizei sagt nun, die Vorwürfe seien geklärt und würden zurückgewiesen. Zwischen polizeilicher Durchsage und dem Mariannenplatz bestünde keine direkte Verbindung.
http://www2.tagesspiegel.de/archiv/2001/05/03/ak-be-4412968.html




Tagesspiegel: Nachrichten : Berlin 3.05.2001
 1. Mai-Krawalle - Die Chronik der Ausschreitungen (Ha)
1. Mai, 0 bis 16 Uhr: Linke und Autonome demonstrieren. Alles bleibt ruhig ...
Erster Mai, kurz nach Mitternacht. Auf dem Heinrichplatz sitzt eine Gruppe Autonomer mit Bier um ihr Auto. "Ho-Ho-Ho-Tschi-Minh!" brüllen sie. Ansonsten herrscht eitel Friede: ein Kreuzberger Sommerabend. Die Polizei ist nirgends zu sehen.

[...] Die Oranienstraße kurz vor 16 Uhr: von Menschen voll. Passanten, Kneipengäste, Demonstranten ohne Demonstration. Herumstehende. Doch ab 16 Uhr gilt ein Versammlungsverbot in ganz Kreuzberg: Schlag vier ziehen Polizeiketten auf. Mit Helm, ohne Schlagstock. Drängen die Menschen in Richtung Heinrichplatz ab. Pfiffe ertönen, Rufe: "Haut ab!" Eine Flasche, zwei Büchsen fliegen. Geht es jetzt los?
1. Mai, 16 bis 18 Uhr: Erste Zeichen der Gewalt. Dann die plötzliche Eskalation.
Die Uhr geht auf sechs. Auf dem Heinrichplatz stehen und sitzen die Menschen, die Straßencafés sind voll. Die Oranienstraße ist nach Westen hin von einer Polizeikette verriegelt. Die Wege zum U-Bahnhof Görlitzer Bahnhof, zum Mariannenplatz und zur Skalitzer sind frei. Es hat einige Steinwürfe auf Polizisten gegeben, jetzt ist die Lage wieder ruhig. Jedenfalls scheinbar: Als Zeitpunkt für den erwarteten Gewaltausbruch gilt bei der Polizei etwa 18 Uhr - der Termin, an dem in den Vorjahren die diesmal verbotene "Revolutionäre 1. Mai-Demonstration" startete. Dass sich etwas zusammenbraut, ist ab 17.30 Uhr an dem intensiver werdenden Funkverkehr zu erkennen.
Gegen 17.50 Uhr geht's dann los. Aus dem Schutz des bis dahin friedlich verlaufenen Festes auf dem Mariannenplatz heraus werfen plötzlich Dutzende von vermummten Randalierern mit Steinen auf die Polizeikette in der Mariannenstraße am südlichen Ende des Platzes. Die Polizisten ziehen sich im Steinhagel zurück und fordern Verstärkung durch Wasserwerfer an. Wenige Minuten später eskaliert die Gewalt auch in der Muskauer Straße. Auch hier vertreibt ein Steinehagel zunächst die Polizei. Barrikaden werden errichtet, Autos umgeworfen und angezündet. Der Besitzer eines Standes auf dem Mariannenplatz fleht einen der Randalierer an, seine Bude nicht zu Barrikadenkleinholz zu machen. Er sei seine Lebensgrundlage. Zur Antwort hört er: "Damit müssen wir leben, jetzt ist Revolution!"
Die angeforderten Wasserwerfer kommen offenbar nicht aus Berlin. Sie kommen mit der Verkehrsführung auf dem Heinrichplatz nicht recht klar und bleiben kurz stecken. In diesem Moment prasselt ein Hagel von Steinen und Flaschen auf sie herab. Aus dem Nichts; oder besser, aus einer Menge mehrheitlich friedlicher Menschen, die nun auseinanderspritzen.

17:56: Wasserwerfereinsatz und vorrücken der Polizei am Mariannenplatz

Nach Süden hin fliegen die Steine in die Mariannenstraße, nach Osten hin in die Wrangelstraße. Auch hier stehen Wasserwerfer und spritzen. Doch die Autonomen verstecken sich hinter Bäumen. Der Steinhagel ist so stark, dass die Beamten nicht vorankommen. Der Mariannenplatz ist frei von Polizei. Das Fest ist längst aufgelöst, aber immer noch sind die Wiesen hier voller Menschen. Unbeteiligt, gaffend, vielleicht auch ratlos herumstehend. [...] 1. Mai, 18 bis 20 Uhr: Großes Chaos am Mariannenplatz. Die Polizei scheint hilflos. Nach der Gewalteskalation auf dem Mariannenplatz scheint die Polizei zunächst die Kontrolle und den Überblick verloren zu haben. Nun hat die Taktik der Einsatzkräfte vor allem ein Ziel: "Wieder das Heft in die Hand zu bekommen", wie ein Beamter sagt. Ohne Erfolg: Über eine Stunde lang ist der Mariannenplatz fest in der Hand von Randalierern, Sympathisanten und Schaulustigen. Die Polizeibeamten scheinen für die Eskalation nicht gewappnet zu sein: Vor dem pausenlosen Hagel der Pflastersteine schützen sie nur Helm und Kampfanzug, die Plastikschilde bleiben im Fahrzeug. Begleitet von pausenlos feuernden Wasserwerfern, versuchen sie dennoch, auf den Platz vorzudringen. Lange Zeit ohne Erfolg. Immer wieder weichen die Beamten im Hagel der Steine und Leuchtraketen zurück.

Die Polizei versucht, den Mariannenplatz mit einem Kordon aus Beamten und Fahrzeugen zu umschließen - ein Vorhaben, das mehr Zeit in Anspruch nimmt, als offenbar im Sandkastenspiel dafür kalkuliert. Die Erklärung von Landesschutzpolizei-Direktor Gernot Piestert am Tag nach der Schlacht: "Der Mariannenplatz ist taktisch ungünstig, sehr lang und stark bewachsen."
Es ist etwa 19.15 Uhr, als zwei Wasserwerfer durch die Waldemarstraße am Südrand des Platzes vorfahren. Sie spritzen sich den Weg frei, verjagen so die im Weg stehenden Menschen. Die Wasserwerfer schwenken nach rechts auf den Platz, und können die Autonomen nun auch von der Seite angreifen. Doch die Gegenwehr wird nicht weniger, den Wasserwerfern geht immer wieder das Wasser aus.
Um das Zentrum der Auseinandersetzungen herum räumen derweil Polizeiketten - teilweise ebenfalls mit Unterstützung durch Wasserwerfer - die Straßen. Die Waldemarstraße, die Manteuffelstraße, schließlich die Adalbertstraße. Überall vertreiben sie weniger "Störer" und Steineschmeißer, als Schaulustige und trotz Versammlungsverbot Versammelte. In das Gebiet zwischen Lausitzer Platz, Kottbusser Tor, Oranienplatz und Mariannenplatz gelangen nur noch Anwohner mit Ausweis. Entlang der Polizeiabsperrungen bleibt es mehr oder weniger ruhig; nur am Kotti ist die Stimmung aufgeheizt.
Erst gegen 20 Uhr - zwei Stunden nach dem ersten Steinhagel - gelingt es der Polizei, sich auf dem Mariannenplatz festzusetzen. Trupps von Polizisten stürmen los und umzingeln Randalierer und Schaulustige. Mehrere hundert Menschen werden in zwei Polizeikessel gedrängt. Die Polizei erklärt den Platz für geräumt. Bis zum späten Abend werden viele der Eingekesselten festgehalten - bis die Polizei geklärt hat, wer zu den "Störern" gehört und wer als Schaulustiger den Randalierern freiwillig oder unfreiwillig als - so der Polizeijargon - "Deckungsmasse" gedient hat. [...]
http://www2.tagesspiegel.de/archiv/2001/05/02/ak-be-5512986.html


Tagesspiegel Nachrichten : Politik : Innenpolitik 6.05.2001
 

18:05: Wasserwerfereinsatz und vorrücken der Polizei Richtung Mariannenplatz

Nachrichten : Politik : Innenpolitik

6.05.2001
 
Eckart Werthebach im Interview
 

"Was hat nicht funktioniert?"

 
Der Berliner Innensenator über die Krawalle am 1. Mai, Einwanderungspolitik und die Liebe zur deutschen Sprache
 
Eckart Werthebach (61) steht seit den Krawallen am 1. Mai in Berlin in starker Kritik. Dem Berliner Innensenator wird vorgeworfen, Gewalttäter durch das Demo-Verbot noch mehr herausgefordert zu haben. Der Experte im Versammlungsrecht wurde 1998 als Nachfolger von Jörg Schönbohm Berliner Innensenator. Anfang der 90er Jahre war er Präsident des Kölner Bundesamtes für Verfassungsschutz und arbeitete vor dem Wechsel in die Hauptstadt als Staatssekretär im Bundesinnenministerium. Der CDU-Politiker, seit 1998 im Amt, will die Versammlungsfreiheit für Extremisten klar einschränken und in Berlin "befriedete Zonen" schaffen.
Krawalle und Straßenschlachten prägten auch dieses Jahr das Bild vom 1. Mai in Berlin. Die Strategie der Deeskalation hat in der Vergangenheit nicht funktioniert. Die Strategie der Eskalation jetzt auch nicht. Was hilft beim nächsten Mal?
Beide Begriffe sind unzutreffend. Deshalb ist die Schlussfolgerung falsch. Wir haben einen neuen Weg eingeschlagen. Wir sind nicht mehr bereit zuzulassen, was 14 Jahre lang in Berlin geschehen ist, nämlich dass Gewaltorgien als Demonstrationen ausgegeben werden. Es gibt kein Grundrecht auf Krawall. Recht darf Unrecht nicht weichen. Dieser Weg war richtig, und wir werden ihn konsequent fortsetzen.
Aber einen Erfolg kann man das doch nicht nennen, was in Kreuzberg geschehen ist?
Das habe ich auch nicht gesagt. Aber Recht darf dem Unrecht nicht weichen. Der richtige Weg ist, dass solche Krawalle in Zukunft unterbunden werden.
Unabhängig von Begriffen: In diesem Jahr wurde eine eher repressive Strategie gefahren. Was ist der nächste Schritt, wenn Sie bei dieser Strategie bleiben?
Eine Gegenfrage: Können Sie mir sagen, welche repressive Maßnahme in diesem Jahr eingesetzt wurde, die in den vergangenen 14 Jahren nicht eingesetzt worden war? Sie werden keine finden. Platzverweise hat es gegeben, Aufenthaltsverbote, Verbringungsgewahrsam, vorläufige Festnahmen etc. Wenn Sie behaupten, in den vergangenen 14 Jahren sei auf Deeskalation gesetzt worden, müssen wir uns diese 14 Jahre anschauen. In all diesen Jahren hätten Verbote solcher Demonstrationen ausgesprochen werden können. Das ist nicht geschehen, und zwar aus polizeitaktischen Gründen. Als 1989 die Polizei kaum in Erscheinung trat, hat Kreuzberg beinahe gebrannt.
Diesmal haben Sie ein klares repressives Signal gesetzt. Und eben diese Strategie hat nicht funktioniert. Also noch einmal: Was ist der nächste Schritt?
Was hat nicht funktioniert? Mir wäre es natürlich am liebsten gewesen, Krawalle hätten nicht stattgefunden. Das ist nicht vollständig erreicht worden, trotz eines massiven Polizeieinsatzes. Der Einsatz war aber deshalb so massiv, weil die Linksextremisten angekündigt hatten, überall in der Stadt zu zündeln. Und das ist unterbunden worden, auch wenn es in der Öffentlichkeit gar nicht wahrgenommen wird. Das ist auf jeden Fall ein großer Erfolg. Es hat tatsächlich Versuche gegeben, in die Glasmeilen zu kommen, in der City West und in der City Ost. Das haben wir verhindert. Es gelang nur nicht, die Ausschreitungen am Mariannenplatz zu verhindern. Das lag daran, dass dort ein echtes 1. Mai-Fest stattfand, mit Frauen und Kindern. Durch das Eindringen der Gewalttäter in dieses Fest hatte die Polizei keine Einsatzmöglichkeit. Am Oranienplatz wäre das ungleich einfacher gewesen. Ich bestreite aber, dass wir insgesamt mehr Gewalt als in den vergangenen Jahren hatten. Es ist ein besseres Ergebnis als in all den 14 Jahren zuvor. Der Verlauf stellt mich nicht zufrieden. Aber ich bin zuversichtlich, dass wir das in den nächsten Jahren immer besser hinbekommen.
Ein Element ihrer Strategie könnte im nächsten Jahr fehlen, nämlich das Demo-Verbot. Die Gerichte könnten es untersagen. Die Demonstration können Sie nur verbieten, wenn Sie konkret belegen können, dass aus ihr heraus Straftaten drohen. Dieses Jahr hat gezeigt: Es gibt den Krawall auch ohne Demo.
Ich kann immer dann ein Verbot aussprechen, wenn eine Prognose ergibt, dass aus diesem Aufzug heraus Straftaten begangen werden. Wenn solche Gewalttäter ein Jahr nicht demonstrieren konnten, weil es ein Verbot gab, und deshalb aus anderen Situationen heraus gewalttätig geworden sind, bleibt mir nach einhelliger Rechtssprechung unbenommen zu sagen: Die Anmelder und Teilnehmer einer solchen Demonstration sind dieselben, die in den Jahren davor diese Gewalttaten begangen haben. Da bekomme ich überhaupt keine rechtlichen Probleme.
Wir haben in Berlin nicht nur Probleme mit dem 1. Mai der Linksextremen, sondern auch mit Neonazis, die am selben Tag in Hohenschönhausen demonstriert haben.
Ich habe viele Zuschriften zu diesem Thema bekommen. Einige waren kritisch: Links hast Du verboten, rechts zugelassen. Politisch wäre mir lieber gewesen, dass beide Verbote bestandskräftig geblieben wären. Mit Blick auf die neueste Rechtsprechung der Oberverwaltungsgerichte und des Bundesverfassungsgerichts kann ich die Haltung zur Verlegung der NPD-Demo aber juristisch nachvollziehen. Deswegen mein Appell an Bundesregierung und Bundestag, sich dieses Problems anzunehmen.
Wie kann eine Lösung aussehen?
Wir müssen ein besonderes Unwerturteil bei Aufzügen von Rechtsextremisten zum Ausdruck bringen können. Wir haben im Strafgesetzbuch eine Menge Vorschriften, die nur von Rechtsextremisten begangen werden können. Vergleichbare Vorschriften für Linksextremisten gibt es nicht. Wenn der Gesetzgeber hier Sonderregeln getroffen hat - warum sind wir nicht bereit, dies auch im Versammlungsrecht zu tun? Das Bundesverfassungsgericht hat jüngst klargestellt, dass auch Rechtsextreme den Schutz der Versammlungsfreiheit im Rahmen der sehr weiten Grenzen der Meinungsäußerungsfreiheit genießen. Ich glaube aber, dass wir das politisch neu bewerten müssen. Hier sind nicht die Gerichte gefragt, sondern der Gesetzgeber. Ich nehme es hin, wenn Extremisten, welcher Couleur auch immer, demonstrieren. Ich habe aber etwas dagegen, wenn Sie mit der Demonstration verfassungsfeindliche Ziele verfolgen.
Also kein pointiert anti-rechtsextremistischer Ansatz, sondern ein anti-extremistischer Ansatz?
Das würde ich bevorzugen. Aber ich hätte auch keine Bedenken, wenn man sich auf Rechtsextreme konzentriert. Ich habe den Vorschlag gemacht, dass Demonstrationen auch dann die öffentliche Sicherheit gefährden und verboten werden können, wenn erhebliche Belange der Bundesrepublik Deutschland betroffen sind und dadurch Verfassungsgrundsätze verletzt werden.
Demonstrationen können auch eingeschränkt werden, wenn sie die öffentliche Ordnung gefährden. Dies hat das Verfassungsgericht in einem Fall bestätigt, als Neonazis am Gedenktag der Auschwitz-Befreiung demonstrieren wollten, und jetzt das Oberverwaltungsgericht Münster, weil ein Rechtsextremen-Aufzug zu Ostern nicht mit dem Charakter der Feiertage als Fest des Friedens und der Hoffnung vereinbar sei. Sie, Herr Werthebach, forderten einmal, den Begriff der öffentlichen Ordnung wieder mit Leben zu füllen. Soll das so aussehen?
Das Bundesverfassungsgericht hat tatsächlich die Tür etwas geöffnet. Es hat aber damit leider nur eine Verlegung der Demonstration begründet, und kein Verbot.
Wollen Sie ein Demo-Verbot zu Ostern?
Das Gericht in Münster hat gesagt, man könne das nicht auf einen bestimmten Tag oder Abschnitt im Jahr beschränken. Aber wir haben zum Beispiel viele historisch belastete Tage. Verdammt viele.
Gleichgültig ob Rechts oder Links: Sie treten auch dafür ein, befriedete Zonen zu schaffen, in denen grundsätzlich nicht demonstriert werden darf.
Ich halte es für völlig verfehlt, wenn demnächst Neonazis am zentralen Holocaust-Mahnmal aufmarschieren. Das scheint sogar die rot-grüne Bundesregierung nachvollziehen zu können. Das muss aber auch an der Neuen Wache gelten, weil dort aller Opfer von Gewalt und Willkürherrschaft gedacht wird. Wer dort nur der Opfer gedenken will, soll sich aber auch weiterhin versammeln und auch demonstrieren dürfen.
Was ist mit dem Brandenburger Tor. Dort tobt der Verkehr. Ist das auch ein stiller Ort des Gedenkens?
Das Brandenburger Tor ist ein Ort von herausragender nationaler und historischer Bedeutung. Es ist das Denkmal der Deutschen Einheit. Ob nur dieser Ort oder auch andere Orte geschützt werden sollten, mag der Bundesgesetzgeber entscheiden.
Es gibt noch eine andere politische Versammlung in Berlin, die Unruhe stiftet, das ist die Love Parade. War es rückblickend ein Fehler, sie als politische Demonstration anerkannt zu haben?
Mir wurde bei der Übernahme meines Amtes überzeugend gesagt, dass die Love Parade zu Anfang eine echte Demonstration war. Ich habe den Eindruck, dass sie in den letzten Jahren zu einer kommerziellen Veranstaltung geworden ist - die dem weltoffenen und progressiven Berlin natürlich gut ansteht. Daraus hätte man jedoch vor Jahren Konsequenzen ziehen müssen. Die Love Parade hätte keine Demo bleiben dürfen, sondern als Sondernutzung öffentlichen Straßenraums betrachtet werden müssen. Das wäre kein Problem gewesen. Ich hoffe, dass dies in diesem Jahr der Weg ist.
Warum wurden nicht früher Konsequenzen gezogen?
Die Verwaltung kann nur reagieren, wenn die Veranstalter entsprechende Anträge stellen. Wir haben die Veranstalter schon vor Jahren auf die rechtlichen Risiken hingewiesen. Aber sie waren sich ihrer Bedeutung für die Stadt offenbar so sicher, dass sie gesagt haben: Was soll die Bürokratie?
Bleiben wir in Berlin. Kürzlich hat eine Gruppe von Bundestagsabgeordneten gefordert, die in Bonn verbliebenen Bundesministerien nach Berlin zu holen.
Ich war von Beginn an ein Befürworter des Umzugs. Wir haben viel dafür getan, um ihn gerecht zu gestalten. Und man muss auch sehen, wie Bonn entschädigt worden ist, etwa mit den Zentralen der Telekom und der Deutschen Post. Es ist keineswegs so, dass dort nichts los ist. Ich kann verstehen, dass Bonn seine Ministerien mit Zähnen und Klauen verteidigt. Aber ein Minister, der sein Haus verantwortungsvoll führen will, braucht seine Mitarbeiter vor Ort. Ich glaube, dass hier nach der Bundestagswahl 2002 neu entschieden wird. Der Umzug der gesamten Ministerien nach Berlin ist für mich unausweichlich.
Sie waren in der CDU-Kommission für Zuwanderung, die jetzt ihre Ergebnisse vorgestellt hat. Sie fordert die Pflicht zu Sprachkursen. Angenommen, Sie übersiedeln für Ihren Lebensabend an die spanische Costa Blanca, um sich herum eine perfekte deutsche Infrastruktur. Jetzt kommen die spanischen Behörden und wollen Sie zum Spanischlernen vor die Tafel setzen. Was sagen Sie?
Wenn ich dauerhaft in einem Land lebe, dann ist es die pure Selbstverständlichkeit dass ich die Landessprache erlerne. Das ist in meinem ureigenen Interesse. Wenn ich öfter in ein fremdes Land reise, sollte ich beim Bäcker auch in der Landessprache sagen können, wie viele Brötchen ich haben will. Wer in Deutschland arbeiten will, der hat gar keine Alternative. Der muss die deutsche Sprache lernen. Und dazu wollen wir ihn in seinem Interesse auch verpflichten. Wir haben hier Entwicklungen zu Parallelgesellschaften, wo gar kein Deutsch gesprochen wird. Unter diesem Aspekt ist kein friedliches Zusammenleben möglich.
Sie sind überhaupt ein Freund der deutschen Sprache. Um sie rein zu erhalten, haben Sie sogar ein Gesetz vorgeschlagen. Würden denn noch mehr Menschen zu einer Liebes-Parade kommen als zur Love Parade?
Meine Initiative galt von Anfang an der überflüssigen Verwendung von Anglizismen. Wir müssen den Computer nicht Rechner nennen, wie etwa die Franzosen, die jetzt "ordinateur" sagen müssen. Ich bin auch dagegen, dass die Fachsprache aus der Informationstechnik so stark in die Umgangssprache Einzug hält. Viele Menschen fühlen sich ausgegrenzt.
Sie wehren sich gegen diesen Einfluss. Aber ist es nicht so, als sagte man: Ich bin gegen schlechtes Wetter?
Nein. Gerade die Medien haben die Pflicht, Sendungen zu produzieren, die von ihrem Publikum verstanden werden. Das ist für mich praktizierter Konsumentenschutz. Kürzlich haben wir diskutiert, welche englischen Wörter man gar nicht mehr aus unserer Sprache wegdenken kann. Jemand sagte: Im Internet surfen. Warum sagen wir dazu immer "surfen", habe ich gefragt. Sagen Sie es doch auf deutsch. Da meinte er: Im Internet schmökern. Schmökern! Das finde ich doch treffend.
 
Das Gespräch führten Barbara Junge und Jost Müller-Neuhof.

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Brokdorfurteil zum Versammlungsrecht

Was war am 1. Mai

was die polizei dazu meint

Pressespiegel

Die Inszenierung des revolutionären 1.Mai

diverse Berichte von Augenzeugen am 1.Mai in Berlin

Konsequenzen aus dem ersten Mai 2001